Literarische Gattungen und Dramentheorie
Literarische Grundgattungen
- Epik: Erzählende Literatur. Sie präsentiert eine Geschichte mit Figuren, Handlung und einem Erzähler.
- Roman: Längere, komplexe Erzählung, die oft eine vielschichtige Handlung, zahlreiche Figuren und eine Entwicklung über längere Zeiträume umfasst. Beispiele: Corpus Delicti (dystopischer Roman).
- Novelle: Eine kürzere Erzählung, die sich auf ein singuläres Ereignis oder einen zentralen Konflikt konzentriert. Sie hat oft einen unerwarteten Wendepunkt (Peripetie) und ist straffer aufgebaut als ein Roman. Beispiele: Aus dem Leben eines Taugenichts.
- Märchen, Sage, Fabel: Kürzere, oft fantastische oder lehrhafte Erzählformen.
- Drama: Überbegriff für Texte, die für die Aufführung auf einer Bühne bestimmt sind. Sie bestehen hauptsächlich aus Dialogen und Monologen.
- Tragödie: Zeigt den unlösbaren Konflikt einer Hauptfigur, der oft mit deren Tod, dem Untergang oder einer Katastrophe endet. Inhalte sind oft Mythen oder historische Ereignisse, die universelle menschliche Konflikte spiegeln. Ziel ist die Katharsis (Reinigung) des Zuschauers.
- Komödie: Behandelt gesellschaftliche Themen auf heitere, oft satirische Weise und hat ein glückliches Ende. Sie entlarvt menschliche Schwächen und Absurditäten durch Humor. Beispiel: Die Physiker (als Tragikomödie).
- Lyrik: Dichtung in Versform (Gedichte). Sie zeichnet sich durch Musikalität, Rhythmus, Reim und oft eine konzentrierte, bildhafte Sprache aus. Sie drückt Gefühle, Stimmungen und Gedanken aus. Beispiele: Die Lieder im Taugenichts, Gedichte aus verschiedenen Epochen.
Das klassische Drama (nach Aristoteles)
Die Poetik von Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) galt lange als verbindlich für das europäische Theater, insbesondere für die Tragödie.
Merkmale:
- Einheit der Handlung: Eine abgeschlossene, logische Haupthandlung ohne Nebenhandlungen oder Abschweifungen.
- Einheit der Zeit: Die Handlung spielt idealerweise innerhalb eines "einzigen Sonnenumlaufs" (24 Stunden, oft auch kürzer).
- Einheit des Ortes: Die Handlung findet an einem einzigen Ort statt.
- Ziel: Erzeugung von Furcht (phobos) und Mitleid (eleos) beim Zuschauer, was zur Katharsis (Reinigung der Emotionen, Läuterung) führen soll. Der Zuschauer soll durch das Miterleben der tragischen Ereignisse gereinigt werden.
Aufbau nach Gustav Freytag (Pyramidenform)
Gustav Freytag (19. Jh.) beschrieb den typischen Aufbau des klassischen Dramas als fünfaktige Pyramide:
- Exposition (1. Akt): Einführung in Vorgeschichte, Figuren, Zeit und Ort. Die Ausgangssituation wird vorgestellt, der Konflikt wird angelegt und die Spannung wird langsam aufgebaut.
- Steigende Handlung mit erregendem Moment (2. Akt): Der Konflikt entwickelt und verschärft sich. Das erregende Moment leitet die eigentliche dramatische Handlung ein. Die Spannung steigt.
- Höhepunkt und Peripetie (3. Akt): Der Konflikt erreicht seinen Kulminationspunkt (Klimax). Oft gibt es hier eine unerwartete, entscheidende Wendung (Peripetie), die das Schicksal der Hauptfigur bestimmt.
- Fallende Handlung mit retardierendem Moment (4. Akt): Die Handlung bewegt sich auf die Lösung (Katastrophe oder Happy End) zu. Ein retardierendes (verzögerndes) Moment ist eine Szene oder ein Ereignis, das die Handlung kurz aufhält, die Spannung noch einmal erhöht und die Lösung hinauszögert, um die scheinbare Ausweglosigkeit zu verstärken.
- Katastrophe / Lösung (5. Akt): Der Abschluss der Handlung. In der Tragödie führt dies zur Katastrophe (Tod der Hauptfigur, Scheitern). In der Komödie zur glücklichen Lösung.
Episches Theater nach Brecht (als Gegenentwurf zum klassischen Drama)
Brechts Dramentheorie wurde u.a. im "Kleinen Organon für das Theater" entwickelt. Sie ist ein radikaler Gegenentwurf zum aristotelischen Drama und zum Illusionstheater.
- Ziel: Nicht Einfühlung und Katharsis, sondern Aktivierung und kritisches Denken des Zuschauers. Das Publikum soll nicht passiv mitleiden, sondern aktiv über die gesellschaftlichen und politischen Ursachen des Geschehens nachdenken und erkennen, dass die gezeigte Welt veränderbar ist.
- Mittel:
- Verfremdungseffekt (V-Effekt): Das Bekannte wird fremd gemacht, um das Nachdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse anzuregen. Mittel sind u.a.:
- Szenentitel, Songs, Kommentare, Sprechchöre: Unterbrechen die Handlung und kommentieren sie.
- Historisierung: Die Handlung wird in eine historische Vergangenheit verlegt, um Distanz zur Gegenwart zu schaffen und eine kritische Betrachtung zu ermöglichen (z.B. Leben des Galilei).
- Montage: Aneinanderreihung unabhängiger Szenen.
- Darsteller sprechen das Publikum an.
- Sichtbare Bühnentechnik: Keine Illusion einer realen Welt.
- A-psychologische Figurenzeichnung: Figuren sind keine geschlossenen Charaktere, sondern zeigen Widersprüche und agieren als Funktionsträger gesellschaftlicher Kräfte.
- Offene Form: Keine starren Akte, sondern eine lose Abfolge von "Bildern" oder "Szenen".
- Ratio statt Emotion: Der Verstand des Zuschauers soll angesprochen werden.
- Verfremdungseffekt (V-Effekt): Das Bekannte wird fremd gemacht, um das Nachdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse anzuregen. Mittel sind u.a.:
Dramentheorie Dürrenmatts (speziell zu Die Physiker)
Friedrich Dürrenmatt hat eine eigene, vom Epischen Theater beeinflusste, aber auch eigenständige Dramentheorie entwickelt, die er in "21 Punkte zu Die Physiker" und anderen Schriften formulierte.
- "Uns kommt nur noch die Komödie bei": Dürrenmatt argumentiert, dass in der modernen Welt die klassische Tragödie nicht mehr möglich ist. Die Schuld ist nicht mehr individuell fassbar, sondern global und kollektiv. Die Welt ist zu unübersichtlich, absurd und chaotisch geworden. Nur die Komödie (speziell die Groteske) kann das Tragische der Zeit noch ausdrücken, indem sie das Absurde überzeichnet und zum Lachen zwingt, das im Halse stecken bleibt.
- Die schlimmstmögliche Wendung: Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Diese Wendung ist nicht Schicksal, sondern tritt durch Zufall ein und ist nicht voraussehbar. Sie führt oft zur Katastrophe trotz oder gerade wegen der Versuche, diese zu verhindern.
- Der Zufall: Spielt eine entscheidende Rolle. Er ist unkontrollierbar und kann alle menschlichen Pläne durchkreuzen. Er ist das absurde Element, das die Groteske prägt.
- Die Groteske: Eine Form der Komödie, die das Komische und das Schreckliche, das Lächerliche und das Ernste miteinander verbindet. Sie überzeichnet die Realität bis zur Absurdität, um die erschreckenden Wahrheiten dahinter sichtbar zu machen. Das Irrenhaus in Die Physiker ist selbst eine Groteske, die die Verrücktheit der "normalen" Welt widerspiegelt.
Verbindungen:
- Klassisches Drama vs. Brecht vs. Dürrenmatt: Alle drei Ansätze stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander. Das klassische Drama (Aristoteles) strebt nach geschlossener Form, Katharsis und der Einheit von Handlung, Zeit und Ort. Brecht bricht diese Einheiten auf, will Distanz und kritisches Denken erzeugen. Dürrenmatt geht noch weiter in der Absurdität und betont den Zufall und die Groteske, um die Ausweglosigkeit der modernen Welt zu zeigen.
- Anwendung auf die Dramen:
- Leben des Galilei ist ein Paradebeispiel für Brechts Episches Theater.
- Die Physiker ist ein Paradebeispiel für Dürrenmatts Tragikomödie und seine Dramentheorie der schlimmstmöglichen Wendung und des Zufalls.