Leben des Galilei
Grundlagen
- Gattung: Episches Theater (ein zentraler Gegenentwurf Brechts zum klassischen Drama und zum Illusionstheater).
- Autor: Bertolt Brecht.
- Entstehungszeit: Drei Fassungen (1938/39, 1945/47, 1955/56). Die "Amerikanische/Berliner Fassung" ist die heute meistgespielte und thematisiert die Verantwortung der Wissenschaft nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.
- Themen:
- Konflikt zwischen Wissenschaft und Autorität (Kirche, Staat).
- Die soziale Verantwortung der Wissenschaft und der Wissenschaftler.
- Umgang mit Macht und Wahrheit.
- Das Problem des Widerrufs: Ist Galilei ein Held oder ein Verräter?
- Der Fortschritt der Erkenntnis und die Überwindung des Aberglaubens.
- Die Verführbarkeit des Genies und die menschlichen Schwächen.
- Die Dialektik: These und Antithese, die zu einer neuen Erkenntnis führen sollen (z.B. Vernunft vs. Gefühl, Wissenschaft vs. Kirche).
Episches Theater nach Brecht
Ziel ist nicht die Einfühlung (Identifikation) des Zuschauers in die Figuren und Handlung, sondern die Aktivierung des Zuschauers zu kritischem Denken und zum Erkennen der Veränderbarkeit der Gesellschaft. Der Zuschauer soll nicht in Illusion verfallen, sondern über das Gesehene nachdenken.
Mittel des Epischen Theaters:
- Verfremdungseffekt: Das Gezeigte soll dem Zuschauer bekannt, aber auch fremd erscheinen, um zum Nachdenken anzuregen und die Dinge nicht als gegeben hinzunehmen. Dies wird durch verschiedene Mittel erreicht:
- Unterbrechung der Illusion: Keine vierte Wand, sichtbare Bühnentechnik.
- Historisierung: Die Geschichte wird in die Vergangenheit verlegt, um Distanz zu schaffen und Parallelen zur Gegenwart zu ermöglichen.
- Offene Struktur: Das Stück ist in 15 chronologische "Bilder" (Szenen) statt Akte unterteilt. Es gibt wechselnde Orte und große Zeitsprünge. Jedes Bild steht für sich und hat oft eine eigene "Lektion".
- Epigramme/Projektionen: Kurze Gedichte oder Texte, die vor den Szenen eingeblendet oder vorgelesen werden, die das Geschehen vorwegnehmen, kommentieren oder eine moralische Frage aufwerfen. Sie verhindern die Spannung und lenken den Fokus auf die Botschaft.
- Songs und Kommentare: Unterbrechen die Handlung und sprechen das Publikum direkt an, oft mit moralischen oder politischen Kommentaren.
- Szenentitel: Geben bereits den Inhalt der jeweiligen Szene preis.
- Kontradiktorische Figurenzeichnung: Figuren zeigen Widersprüche (z.B. Galilei ist genial, aber auch sinnlich und feige).
Handlung im Überblick
- Venedig (Bild 1-3): Galilei lehrt in ärmlichen Verhältnissen und beweist mit dem neu erfundenen Fernrohr (das er opportunistisch als seine Erfindung ausgibt, obwohl er es nachgebaut hat) das kopernikanische Weltbild (Heliozentrismus). Er glaubt an die Macht der Vernunft und der Beweisführung.
- Florenz (Bild 4-6): Galilei zieht nach Florenz an den Hof des Medici und setzt seine Forschungen fort. Er stellt seine Erkenntnisse den Wissenschaftlern vor, die sich aber weigern, durch das Fernrohr zu blicken. Die Kirche beginnt, seine Lehren als Ketzerei zu betrachten.
- Rom (Bild 7-9): Galilei reist nach Rom, um seine Lehren zu verteidigen. Er trifft auf den Papst und Kardinäle, die seine Theorien widerlegen wollen. Er wird gezwungen, das kopernikanische Weltbild abzuschwören, um eine Verurteilung zu vermeiden. Der Papst (Kardinal Barberini) hat Sympathien für Galilei, beugt sich aber dem Druck der Inquisition.
- Inquisition (Bild 10-13): Galilei wird von der Inquisition verhört und gefoltert. Er widerruft seine Lehren öffentlich, um der Todesstrafe zu entgehen. Dieser Widerruf ist der zentrale Wendepunkt des Stücks und die Quelle der Kontroverse um Galileis Charakter.
- Nach dem Widerruf (Bild 14-15): Galilei lebt unter Hausarrest, blind und gebrechlich. Er schreibt jedoch heimlich seine "Discorsi" – ein Werk, das die Grundlagen der modernen Physik legt und damit die neue Wissenschaft sichert. Sein ehemaliger Schüler Andrea schmuggelt das Manuskript über die Grenze. Galilei ist desillusioniert über seinen Widerruf, sieht sich als Verräter an der Wissenschaft, ermöglicht aber gleichzeitig deren Fortbestand.
Zentrale Figuren
- Galileo Galilei: Der Protagonist. Ein brillanter Wissenschaftler, sinnlicher Mensch und Denker. Er liebt das Leben, gutes Essen und seine Forschung. Er ist mutig in der Erkenntnis, aber feige im Widerruf. Seine Figur ist ambivalent und widersprüchlich. Er sieht sich selbst als Verräter, weil er aus Angst um sein Leben widerrufen hat, aber sein heimliches Weiterschreiben ermöglicht den wissenschaftlichen Fortschritt.
- Andrea Sarti: Galileis Schüler, repräsentiert die Hoffnung auf eine neue Generation von Wissenschaftlern. Er ist anfangs von Galilei idealisiert, später enttäuscht von dessen Widerruf, aber am Ende derjenige, der Galileis Werk in die Welt trägt. Er symbolisiert den dialektischen Fortschritt.
- Virginia: Galileis Tochter, fromm und systemtreu, versteht die wissenschaftlichen Ambitionen ihres Vaters nicht und ist besorgt um sein Seelenheil. Sie repräsentiert die traditionelle Welt.
- Der kleine Mönch: Gespalten zwischen seinem Glauben und seinem Interesse an der Physik. Er verkörpert den Konflikt zwischen alter Ordnung und neuem Wissen und zeigt die inneren Spannungen der Zeit. Er ist ein Beispiel für einen Menschen, der durch Vernunft überzeugt werden kann.
- Kardinal Barberini / Papst Urban VIII: Zunächst ein aufgeklärter Förderer Galileis, wird aber als Papst zum Machtpolitiker, der die Stabilität der kirchlichen Ordnung über die Wahrheit und die Wissenschaft stellt. Er zeigt, wie der Druck der Institutionen das Handeln eines Einzelnen beeinflusst.
Konflikte
- Wissenschaft vs. Kirche: Der zentrale Konflikt. Die Kirche (Inkarnation der feudalistischen Gesellschaftsordnung) fürchtet den Verlust ihrer Autorität und die Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung durch das neue Wissen. Sie will das geozentrische Weltbild (Mensch im Zentrum) aufrechterhalten.
- Heliozentrisches vs. Geozentrisches Weltbild:
- Geozentrisch (Ptolemäisch): Erde und Mensch im Zentrum des Universums. Stabilisiert die Macht der Kirche und rechtfertigt die bestehende, hierarchische Ordnung.
- Heliozentrisch (Kopernikanisch): Sonne im Zentrum, Erde ein Planet unter vielen. Stellt die Autorität der Kirche infrage, degradiert den Menschen von seiner zentralen Position und birgt das Potenzial für Revolution und Befreiung des Denkens.
- Individuelle Moral vs. gesellschaftliche Verantwortung: Galileis persönliches Überleben vs. seine Verantwortung für den wissenschaftlichen Fortschritt.
Deutung: Held oder Verräter?
Dies ist die zentrale Frage des Dramas und wird von Brecht bewusst ambivalent gehalten, um das Publikum zum Nachdenken anzuregen.
- Verräter: Er widerruft aus Angst und Bequemlichkeit, verrät damit den wissenschaftlichen Fortschritt und seine soziale Verantwortung. Er verzichtet auf den "Märtyrertod", der vielleicht eine Revolution ausgelöst hätte. Er stellt sein privates Wohl über das öffentliche.
- Held (im Brecht'schen Sinne): Er schreibt heimlich die "Discorsi" und sichert so die Weitergabe seines Wissens, auch wenn er sich selbst als gescheitert sieht. Sein Scheitern dient als Lehrstück für die Nachwelt, indem es die Gefahr der ungebremsten Wissenschaft aufzeigt. Brecht wollte die Lehre vermitteln, dass Wissenschaftler die moralische Pflicht haben, für ihre Erkenntnisse einzustehen und nicht zu schweigen.
Verbindungen zu anderen Werken:
- Die Physiker (Verantwortung der Wissenschaft):
- Parallelen: Beide Dramen behandeln die Verantwortung von Wissenschaftlern für ihre Entdeckungen und die potenziellen Gefahren des Missbrauchs. Beide Protagonisten (Galilei und Möbius) sind Genies, die versuchen, ihr Wissen vor dem Missbrauch zu schützen. Beide Werke warnen vor den Konsequenzen unkontrollierten Wissens.
- Unterschiede: Galilei widerruft, um heimlich weiterzuarbeiten und so die Wissenschaft zu retten; Möbius zieht sich in den Wahnsinn zurück, um sein Wissen zu verbergen, scheitert aber gerade dadurch. Brechts Botschaft ist die Notwendigkeit, für die Wahrheit einzustehen; Dürrenmatts Botschaft ist die prinzipielle Unkontrollierbarkeit des Zufalls und die Ohnmacht des Individuums. Galilei glaubt noch an die Ratio, Möbius ist von der Irrationalität der Welt überzeugt.
- Corpus Delicti (Konflikt des Einzelnen mit einem System):
- Parallelen: Sowohl Galilei als auch Mia Holl (aus Corpus Delicti) stehen im Konflikt mit einem totalitären System (Kirche bzw. METHODE), das die absolute Wahrheit für sich beansprucht und Abweichungen unterdrückt. Beide Figuren sind auf der Suche nach Wahrheit und Freiheit, und beide müssen Konsequenzen für ihren Widerstand tragen.
- Unterschiede: Galilei widerruft (vermeintlich), um sein Leben und damit die Chance zur Fortführung seiner Arbeit zu erhalten. Mia wird durch eine perfide "Begnadigung" gebrochen, um ihr den Märtyrertod zu nehmen, und damit das System symbolisch zu stärken. Galilei kann sein Werk retten, Mia verliert (zumindest vorläufig) ihre Identität und ihren Willen. Der Konflikt in Galilei ist eher ein Machtkampf um Erkenntnis, in Corpus Delicti ein Kampf um die persönliche Integrität.